„Gesund essen – gesund leben?“ Populäre Formen gesunder Ernährung der Gegenwart

(Inter-)nationale Ernährungssurveys klassifizieren die Häufung von Übergewicht und Adipositas als weltweite „Epidemie“ (WHO 2006), die eng mit immensen Folgekosten für die Gesundheits- und Sozialsysteme verknüpft ist (Käble 2007). Ernährung wird hier zum gesundheitlichen Risiko von Wohlstands­­gesellschaften: Allein in Deutschland sind derzeit 53% der Frauen und 67% der Männer übergewichtig (Robert-Koch-Institut 2011/2013). Andererseits gewinnt Ernährung als Präventionselement gesundheitswissenschaftlich bzw. -politisch bereits seit den 1980er Jahren an Bedeutung (Alma Ata-Konferenz d. WHO, New Public-Health, Genetik u.a.). Die Betonung des Präventionspotentials der Ernährung und der Eigenverantwortlichkeit lassen sich als Elemente von Biopolitik (Foucault 2006; Lemke 2011) interpretieren, in der dem individuellen Körper soziale und politische Kontrolle übertragen wird (Lock/Nyugen 2010). Durch die Integration des „sozialen Totalphänomens“ in den medizinischen Diskurs rückt Ernährung als unmittelbar körperbezogene Praktik ins Feld der Biomedikalisierung (Lock 2004) und verstärkt den „Imperativ“ zur gesunden Ernährung als normale Alltagspraxis. Durch die Akzentuierung der Verantwortung eines jeden für seine Gesundheit und die der Gesellschaft wird Gesundheit selbst medikalisiert und zum Standard, zur Norm erklärt. Medizinanthropologisch sowie -ethisch sind dabei die Fragen relevant, ob und wie Menschen einerseits diese Verantwortung wahrnehmen, bzw. übernehmen wollen und andererseits inwieweit sie Gesundheitsfürsorge im Alltag integrieren. Mein Dissertationsprojekt möchte zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung einen Beitrag leisten und nähert sich dem Feld über einen qualitativ-empirischen Zugang.

Gesellschaftlich ist das Feld „Gesunde Ernährung“ von mehreren Dimensionen beeinflusst: Staat/Re­gier­­ung, Ökonomie und Wissenschaft bilden dabei ein Dreieck unterschiedlicher Machtkonstellationen (Rabinow 2010), in dem sich Deutungs- und Interessenskonflikte ergeben und auch in Wechselwirkung zur Alltagskultur stehen. In all diesen Dimensionen wird Wissen hervorgebracht. Medial existieren im Längsschnitt betrachtet widersprüchliche Ratschläge und Anleitungen zur gesunden Ernährung parallel. Mein Erkenntnisinteresse gilt der auffälligen Diskrepanz zwischen stetig erneuertem (Experten-)Wissen über gesunde Ernährung und einer gleichzeitigen Zunahme an ernährungsbedingten Erkrankungen (z.B. durch Adipositas). Die Medialität „gesunder Ernährung“ verstärkt ihre Wirkung als Norm, kann durch ihre Widersprüchlichkeit aber auch Verunsicherung bei den Akteur_innen hervorrufen. Ein kultur- bzw. medizinanthropologischer Zugriff möchte dazu beitragen, diese Mehrdimensionalität (individueller) Ernährung zu entschlüsseln, in dem sowohl subjektive Dimensionen als auch soziokulturelle Dimensionen zur Erklärung mit herangezogen werden.

Anna Palm